Abends erzählte ich dem Jensi vor dem Einschlafen viele Märchen, die ich mir selbst ausdachte. 
An einem solchen Abend, nachdem ich das Märchen beendet hatte und ihm gerade seinen Gutenachtkuss geben wollte, fragte er mich: „Papi, wann kommt denn die Mama endlich aus dem Krankenhaus?“ 
Vor dieser Frage hatte ich mich schon lange gefürchtet. 
Ich überlegte ganz kurz und sagte: „Deine Mami kommt nicht mehr wieder.“ Dabei schluckte ich, riss mich zusammen und unterdrückte meine Tränen. „Die Mami ist nicht mehr im Krankenhaus, deine Mami ist im Himmel.“
„Was macht die Mami denn da“, wollte er wissen.
„Deine Mami hat im Himmel kein ‘Aua’ mehr. Aber sie ist immer bei dir und beobachtet dich von dort oben, ob du auch schön lieb bist. Sie passt ständig auf dich auf, dass dir nichts passiert.“
„Kann die Mami nicht vom Himmel wiederkommen?“, wollte er nun in Erfahrung bringen.
„Ja, mein Kleiner, deine Mami kommt wieder. Aber sie sieht dann nicht mehr ganz genau so aus wie vorher. Sie möchte, dass wir eine neue Mutti suchen. Dabei musst du mir helfen. Wenn du auf der anderen Straßenseite eine Mutti siehst, die fast genauso aussieht, wie deine Mutti, dann musst du mir Bescheid geben, wenn sie dir gefällt. Wenn diese Mutti auch so lieb ist wie deine Mami, kommt deine Mami vom Himmel und geht in diese Frau hinein. Dann haben wir eine neue Mutti, die so lieb ist, wie beide Muttis zusammen. Sie ist dann doppelt so lieb.“
In diesem Augenblick strahlte sein Kindergesicht. Er rieb sich seine Hände, legte sich hin, um zu schlafen und freute sich auf seine neue Mutti.       
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